Kreatives und biografisches Schreiben befreit und empowert 

Unter dem Motto „ Ich möchte schreiben, ich habe etwas zu erzählen“ fand im Herbst 2019 eine kreative und biografische Schreibwerkstatt für Frauen in den Räumen des Migrantinnen Bund Hamburg statt. Kursleiterin und Autorin Rukiye Cankiran lud an sechs Sonntagen zum Schreiben ein. Als Einstieg dienten kleine Inputs über Werkzeuge des Schreibens, wie z.B. „in Bildern erzählen“ oder „eine Spannungskurve kreieren“. Einerseits ging es darum, die eigenen Gedanken von der Seele aufs Papier zu bringen, aber auch ganz profan einen Feinschliff der im Laufe der Jahre erworbenen Deutschkenntnisse zu erreichen. Viele der Teilnehmerinnen leben schon lange Jahre in Deutschland und nutzten die Gelegenheit dieser Treffen, um Geschichten aus ihrem Leben in kreative, witzige oder rührende Kurzgeschichten zu verwandeln. Ganz nebenbei wurde eine eigene und passende Erzählperspektive gewählt. 

„Die Frauen haben mit viel Elan und enormer Motivation an ihren Texten geschrieben. Das ist etwas ganz Besonderes, weil Deutsch für die meisten Teilnehmerinnen nicht die Muttersprache war. Und trotzdem ist es allen sehr gut gelungen, interessante und spannende Texte zu verfassen. Die Frauen hatten richtig Spaß daran, einen Plot, ein Setting und Protagonistinnen und Protagonisten zu erschaffen und parallel dazu genau diese Fachbegriffe zu lernen.“ berichtet die Kursleiterin. 

Teilnehmerin Serap Yıldırım ist 1973 geboren, studierte an der Universität Hamburg Turkologie und Strafrecht auf Magister und schreibt seit ihrer Kindheit gerne. Früher waren es lange Briefe an die Verwandten in der Heimat, später wissenschaftliche Arbeiten und seit 2016 Kurzgeschichten auf ihrem Blog. 

Über die Schreibwerkstatt sagt sie:

„Besonders gut gefällt mir an der Schreibwerkstatt, dass ich jede Woche mehrere neue Techniken, Instrumente und Schreibgenres kennenlerne. Die Kurzfeedbacks nach dem Vortragen helfen mir dabei, die Eigenwahrnehmung zum Geschriebenen zu justieren. Zudem wird hier gut deutlich, welche unterschiedlichen Ansätze alle individuell in die eigenen Texte einbringen, so dass dies ebenfalls eine weitere Quelle der Inspiration für mich wird. Ganz besonders gefällt mir, dass durch die kreative Energie in den Stunden, Themen und dadurch Geschichten aus mir “herausgekitzelt” werden, die ich längst vergessen hatte. Die Schreibwerkstatt fördert sozusagen viel ans Tageslicht, was einen besonderen Wert in der verschriftlichten Auseinandersetzung mit sich bringt. Somit eröffnet jede Stunde in der Schreibwerkstatt für mich die Möglichkeit, neue Aspekte des Schreibens zu erlernen und sie mit meiner ganz persönlichen autobiografischen Geschichte verknüpfend in Worte zu fassen.“ 

Diese Schreibwerkstatt zeichnete einerseits der extrem niedrigschwellige Zugang aus, d.h. jede Frau konnte teilnehmen und sich ausprobieren. Andererseits hatte die Schreibwerkstatt einen hohen inhaltlichen Anspruch. In jeder Stunde gab es einen Kurzinput zu einem Thema rund um die hohe Schreibkunst oder bedeutende Textgenres und viele abwechslungsreiche und unterschiedliche Medien für die Gruppenarbeit. Das einstimmige Feedback war eindeutig: Die Frauen wünschen sich eine zweisprachige Schreibwerkstatt in 2021! 

Foto: Rukiye Cankiran

Die Braut, die sich nicht traut von Serap Yıldırım

Ein Samstag. Der beliebteste Tag, um eins der schönsten Ereignisse des Lebens zu feiern. Aber auch der teuerste Wochentag, denn samstags sind die Mietkosten für Veranstaltungssäle am höchsten. Doch wer schaut auf die Kosten, wenn damit nicht nur das eigene Glück, sondern auch ein gewisser Status ausgedrückt werden möchte? 

Seit dem späten Nachmittag füllt sich der Saal mit den Hochzeitsgästen. Nach über zwei Stunden sind die vorhandenen 1000 Stühle besetzt und die mehrköpfige Band heizt die tanzbereite Gesellschaft ein. Alles geht seinen Gang. Stunde um Stunde schwingen das Brautpaar, die Eltern, Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen zum Viervierteltakt die Hüften, trinken, speisen, lachen und amüsieren sich. 

Ein sehr altes türkisches Sprichwort aus einer noch nicht motorisierten Zeit der Menschheit lautet: Gelin ata binmiş, “ya nasip” demiş. Übersetzt bedeutet es: Die Braut steigt auf das Pferd und spricht: „Möge es vergönnt sein!“ Einer der Legenden nach stammt dieser Spruch aus einer Zeit, wo ein Gutsherr um die Hand einer jungen Dame bei ihrem Vater anhält und der Vater statusbedingt nicht widersprechen kann. Der Gutsherr bekommt die Tochter sogar ohne die Vereinbarung der üblichen Brautgabe. Am Tag der Hochzeit wird die Braut vom Bräutigam und seiner Gefolgschaft in ihrem väterlichen Zuhause abgeholt. Während der Bräutigam nun ganz vorn die Hochzeitsgesellschaft anführt und zu seinem Haus geleitet, wo die Hochzeitsfeier stattfinden wird, fällt die Braut vom Pferd. Die Bediensteten des Gutsherrn fragen ihn, was sie nun tun sollen. Lapidar antwortet er: „Wer von allein hinfällt, muss auch in der Lage sein, von allein wieder aufzustehen.“ Die Braut schafft es mit ihrem voluminösen Gewand ohne Hilfe wieder auf das Pferd zu steigen. Sie folgt jedoch nicht mehr dem Bräutigam, sondern kehrt zurück zu ihrem Vater. Die Bediensteten des Gutsherrn rufen ihm zu, dass die Braut umgekehrt sei. „Soll sie doch“, antwortet er „sie hat mich eh nichts gekostet.“

Diese Legende geht zwar weiter und endet märchenhaft mit einem wertschätzenden Happy End, doch wenden wir uns noch einer weiteren zu:  Nach dieser spielte wohl Liebe und familiäre Übereinkunft in gewissen feudalen Zeiten keine Rolle, wenn ranghohe Personen aufgrund ihres Status ein sogenanntes Anrecht auf eine Heirat mit einer bestimmten Dame hatten. Nicht selten soll es vorgekommen sein, dass eine Braut an ihrem Hochzeitstag mit einem anderen Bräutigam verheiratet wurde. Bis vor dem Vollzug der Ehe konnte sich das Blatt also jederzeit wenden. 

Das deutsche Pendant zum türkischen Sprichwort ist gut mit „Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben“ zu vergleichen, auch wenn der historische Kontext ein anderer ist. 

Der Hochzeitstag in dieser Geschichte sollte ebenfalls nicht vor dem Abend gelobt werden, denn während die Gäste nach einer langandauernden Geschenkzeremonie für das Hochzeitspaar wieder die Hüften schwingen, erreichen die Feierlichkeiten einen unvorhersehbaren Höhepunkt: Die Braut ist spurlos verschwunden!

Was war passiert?

Rückwirkend erfährt man, dass die Braut ganz und gar nicht daran interessiert war, den Bräutigam zu heiraten. Die Familie des jungen Mannes hielt offiziell bei dem Vater der jungen Frau um ihre Hand an und dieser willigte ein, ohne auch nur daran zu denken, seine Tochter zu fragen. Der zukünftige Bräutigam schien eine gute Partie zu sein und der Vater konnte sich wohl keinen besseren Schwiegersohn vorstellen. 

Die Tochter offenbarte ihren Eltern, dass sie bereits einen Freund habe, den sie liebe und es für sie nicht in Frage kommen wird, diesen für sie auserwählten Mann zu heiraten. Sie bittet den Vater, dass die Eltern ihres Freundes ebenfalls um ihre Hand anhalten und er sich umentscheidet. Der Vater verneint. Die junge Frau spricht daraufhin mit dem auserwählten Bräutigam und stellt klar, dass sie nie seine Frau werden wird und er doch bitte von der ganzen Sache absehen soll. Der angehende Ehemann verneint. In ihrem Bestreben, diese arrangierte Ehe nicht Wirklichkeit werden zu lassen, spricht die junge Frau mit ihrer Mutter, die ihrem Ehemann ins Gewissen reden soll. Die Mutter verneint. 

Die junge Frau lässt nicht locker, nochmal und in aller Deutlichkeit macht sie ihrem Vater klar, dass diese Ehe für sie nicht in Frage kommt. Während beidseitig die Emotionen in der Diskussion hochkochen, möchte die klagende Tochter von ihrem Vater wissen, was dieser von ihr erwartet. 

„Diese Hochzeit wird stattfinden!“ brüllt er. Das ist seine Erwartung. 

„Du willst, dass diese Hochzeit stattfindet?“ fragt sie ihren Vater. 

„Ja. Genau. Diese Hochzeit wird stattfinden!“ wiederholt er. 

Monate später findet die Großhochzeit an einem Samstag statt. Noch vor der standesamtlichen Trauung der beiden jungen Menschen. Tausend Gäste im Saal. Doch wo ist nun die Braut? 

Nach der Geschenkzeremonie begab diese sich mit zahlreichen Freundinnen in die Waschräume. Dort zog sie sich um und verließ mit dem geschenkten Geld und Goldschmuck den sie trug oder welches an ihr Hochzeitskleid provisorisch angepinnt wurde den Hochzeitssaal und setzte sich in das Auto ihres Freundes, den Mann den sie liebte, der, der stundenlang auf sie draußen wartete und fuhr in ein neues selbstbestimmtes Leben. 

Als die Mutter der Braut nach über 20 Minuten die Waschräume betritt, um nach ihrer Tochter zu schauen, ist von ihr nur das in sich zusammengesackte Brautkleid in einer der Toilettenkabinen übrig. Die Freundinnen berichten, dass die Tochter weg sei. Doch eine letzte Nachricht für den Vater steht noch aus. Durch die beste Freundin lässt die entlaufene Braut ihm ausrichten, dass sie seinem Wunsch nachgekommen sei: Die Hochzeit, an der im so viel lag, fand statt. 

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