Yili Rojas
Meine Erfahrung in der Arbeit mit Frauen geht auf Brasilien zurück, wo ich ebenfalls 20 Jahre lang als Migrantin gelebt habe. Dort habe ich Bildende Kunst studiert. In Deutschland bin ich auch eine Migrantin, wie die Frauen, mit denen ich derzeit in den Linolschnitt-Werkstätten im Nachbarschaftshaus in der Karlgartenstraße 6 in Neukölln arbeite. In dem Jahr, in dem die Werkstätten liefen, haben viele Frauen die Gruppen durchlaufen. Diese Gruppen sind Teil des Projekts “Frauen, die Druck machen”, das von der Schillerwerkstatt durchgeführt und von der Landeszentrale für politische Bildung finanziert wird.
Und was hat der Linoldruck mit politischer Bildung zu tun? Zunächst einmal ist das grafische Verfahren sehr demokratisch, es ist zugänglich, billig und ermöglicht die Vervielfältigung von Bildern, die somit viel leichter verbreitet werden können. Auf der anderen Seite sind die Räume, die wir mit den Frauen schaffen, Orte, an denen vielfältige Reflexionen über z.B. Geschlecht, Unterdrückung und Widerstand, Klasse, Rassismus, Migrationserfahrungen Platz haben, und der Weg zur Erweiterung dieser Reflexion ist die Produktion von Bildern. Der, mit den Frauen geschaffene Raum ist ein Raum des Empowerments, in dem Menschen, die sich anfangs nicht in der Lage fühlten zu zeichnen, entdecken, dass sie unglaubliche Bilder produzieren können und dass ihre Fragen dort einen Platz haben und von anderen geschätzt werden. Es sind Momente der Entdeckung der Farben, der Möglichkeiten des Drucks, aber auch des Austauschs zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, die verschiedenen Generationen angehören und ganz unterschiedliche Lebensgeschichten haben, Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden.
Wir treffen uns am Donnerstagnachmittag, unter uns sind Memduha, Aysun, Doga und viele andere Frauen, die zum Migrantinnen Verein gehören. Doga hat zum Beispiel ein Porträt von sich selbst als ihr erstes Linolschnittbild angefertigt. Seitdem schneidet und druckt sie Farbdrucke und hat Spaß daran, die Möglichkeiten des Drucks zu entdecken. Für jede dieser Frauen ist die Druckgrafik wie eine Reise, ein bisschen zu sich selbst, ein bisschen zu all den ästhetischen und poetischen Wegen, die der Linolschnitt ihnen bietet. Die Bilder und die Herstellung sind die Sprache, mit der wir unter den Migranten dort oft kommunizieren.
Neben der offenen Werkstatt, die jeden Donnerstagnachmittag stattfindet, gab es auch Werkstätten in Zusammenarbeit mit dem Stadtteilmütter in Neukölln (Diakoniewerk Simeon gGmbH). Insgesamt gab es zwei Werkstätten mit unterschiedlichen Laufzeiten von mehreren Wochen und sogar Monaten. Die Erfahrung mit den Gruppen war sehr reichhaltig: von der Auswahl der Themen, mit denen sie arbeiten wollten, über die Tiefe ihrer Überlegungen bis hin zu den hochwertigen Grafiken. Sie waren immer bereit, die Themen zu erweitern.
Ist Scham Politisch? Mit dieser Frage begannen die anschaulichen Diskussionen und Bilder zu einem Thema, das uns alle berührt und viele Facetten hat. Von Körper, Sexualität, Gebrauch und Erlernen der deutschen Sprache, Identität bis hin zu Aspekten wie soziale Schicht und Scham und lustigen Anekdoten näherten sich die Teilnehmerinnen diesem Thema aus vielen Blickwinkeln und zeigten, wie Scham in ihren Familien und Gemeinschaften vermittelt wurde und was dies für sie emotional und körperlich bedeutet hat. Gleichzeitig waren sie in der Lage, Machtstrukturen zu analysieren, in denen Scham ein Mittel ist, um bestimmte Gruppen von Menschen unter Kontrolle zu halten. Es gelingt ihnen auch, einen positiven Aspekt der Scham zu erkennen, wenn sie etwas Ähnliches wie Bescheidenheit ist (und diese Subtilität zwischen den beiden Begriffen taucht zum Beispiel in der arabischen Sprache auf) oder sogar, wenn sie bei der ersten Begegnung eines Paares auftritt, aber mehr noch, sie sagen, die Scham ist eine Bremse, sie ist ein schmerzhafter Druck auf den Körper, lähmend, anziehend. Neben den Bildern haben die Frauen auch Texte verfasst, in denen sich diese tiefgründigen und komplexen Überlegungen wiederfinden lassen, diese Texte wurden mit der Unterstützung von Helena Klaße geschrieben.
Die zweite Gruppe der Kooperation zwischen den Stadtteilmüttern und der Schillerwekstatt hat sich für das Thema Unterdrückung und Widerstand entschieden. Was bedeutet das für Migrantinnen, Mütter, Frauen, die mit Migrantenfamilien arbeiten? Die Reflexion über das Thema hatte eine biografische Achse, einen Blick auf ihre eigenen Erfahrungen, in denen sie nicht nur Unterdrückung erfahren haben, sondern auch individuell oder kollektiv reagiert haben, um auf Veränderungen zu drängen, um respektiert zu werden, um Raum und Selbstbestimmung zu haben.
Die Bilder dienten dazu, diesen Erfahrungen auf poetische und visuelle Weise eine Form zu geben und diesen Paradigmenwechsel darzustellen. In einem der Drucke ist der Satz auf Türkisch “Ich möchte sprechen, aber die Worte sind in mir gefangen” zu lesen. Dieser Druck gibt Anlass zu weiteren und aus den dort gefundenen Lösungen kann man im Akt des Schnittes und Druckens in einem weiteren Druck “Ich möchte sprechen – Worte” lesen.
Als langjähriger externer Mitarbeiter des Käthe-Kollwitz-Museums und als Kenner des Werks dieser bedeutenden deutschen Künstlerin erschien es mir nur selbstverständlich, eine Brücke zwischen ihr und den beiden Gruppen zu schlagen, dafür habe ich mit der Unterstützung von Barbara Antal, Kuratorin für Outreach im Museum zusammengearbeitet. Käthe Kollwitz hat sich zeitlebens darum bemüht, in ihren Werken die Probleme der Kriegszeit in Europa, die Not der Unterprivilegierten, widerzuspiegeln, sie hat sich offen für das Leben, für die Sicherheit der Kinder im Kontext des Krieges eingesetzt, sie hat sehr bewegende Bilder über das Leben, den Tod, die Mutterschaft geschaffen, und sie hat zum Frieden aufgerufen, wie in einem ihrer bekanntesten Werke zu sehen ist, in dem der berühmte Satz “Nie wieder Krieg” steht. Käthe Kollwitz musste im Krieg den Tod eines ihrer Söhne und später eines ihrer Enkel hinnehmen.
Es waren Besuche, bei denen die Teilnehmerinnen der Werkstättes das Werk und die politische Position von Käthe Kollwitz kennen und bewundern lernten und über ihre eigenen Erfahrungen nachdachten, sei es im Kontext von Krieg oder Mutterschaft. Heute ist das Ergebnis der Linoldruck-Werkstätten mit den Stadtteilmüttern im Museum zu sehen, nur wenige Meter von den Werken Käthes Kollwitz entfernt. Die Ausstellung kann noch bis zum 26.06.22 besucht werden, wenn das Museum von seinem derzeitigen Standort umzieht.
Yili Rojas ist eine bildende Künstlerin und in der politischen Bildungsarbeit tätig.
yilirojas@gmail.com