Interview mit Prof.´in Dr. Havva Engin (PH Heidelberg)
Fehlende Bildungsqualifikationen wirken sich negativ auf den weiteren Lebenslauf von Migrantenkindern aus. Diese sind u.a. weniger Chancen einen Ausbildungsplatz zu finden, Armutsrisiko und fehlende Möglichkeiten auf eine selbstbestimmte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Neben Staat und Bildungseinrichtungen, haben auch Eltern eine zentrale Rolle beim Erfolg der schulischen Bildung ihrer Kinder. Wir haben mit Prof.´in Dr. Havva Engin über die aktuellen Probleme und Ursachen für die Bildungsungerechtigkeit im Schulsystem gesprochen.
In letzter Zeit häufen sich die Stimmen, die dahingehend argumentieren, dass der Bildungserfolg oder -mißerfolg von Migrantenjugendlichen maßgeblich von den Eltern bzw. Müttern abhängt. “Gute Eltern = gute Bildungschancen”? – Wie stehst Du zu dieser These?
Prof.´in Dr. Havva Engin: Alle internationalen und nationalen Vergleichsstudien wie PISA und IGLU zeigten mehrfach auf, dass in keinem anderen OECD-Land der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern vom sozialen Status der Eltern abhängt wie in Deutschland. Insofern findet in Deutschland weiterhin die Zuweisung von Schülerinnen und Schülern zu verschiedenen Sekundarschularten entlang der sozialen Schichten statt: Wohlhabende wechseln überproportional häufig auf Gymnasien, Arme in signifikanter Anzahl auf die Haupt- bzw. Werkrealschule.
Dieser Zustand hat mehrere Ursachen. Zum einen sind es bildungspolitisch historische Gründe; schon immer besuchten und besuchen weiterhin Nachkommen der Mittel- und Oberschicht das Gymnasium, welches lange Zeit als einzige Schulform den Übergang auf die Hochschulbildung ermöglichte. Insofern hat sich mit den Jahrhunderten auch ein reflexartiger Habitus unter den Lehrkräften ausgebildet, Kinder dieser Milieus dem Gymnasium zuzuweisen.
Zum anderen ist es in Deutschland tatsächlich so, dass der Bildungserfolg eines Menschen in großem Maße von einer familiären Unterstützung abhängt. Da die Schule nahezu in allen Bundesländern weiterhin nur halbtägig stattfindet, werden zentrale Anforderungen des Bildungssystems wie Hausaufgaben, Wiederholung und Aufbereitung des Lernstoffs sowie die Vorbereitung auf Prüfungen an das Elternhaus delegiert. Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau sind daher häufig nicht in der Lage, ihre Kinder adäquat zu unterstützen bzw. können den Anforderungen des Gymnaisums schlicht nicht gerecht werden. Insofern haben in Deutschland bisher erfolgreiche Bildungskarrieren nichts mit der Frage zu, „gute“ oder „schlechte“ Eltern zu haben, sondern es geht um die Frage, können die Eltern selbst ihre Kinder beim Lernen unterstützen oder verfügen sie über ausreichend finanzielle Möglichkeiten, diese Lernunterstützung „einzukaufen“.
Dies ist ein Zustand, was dem Grundsatz der demokratischen Teilhabe zuwiderläuft, denn letztendlich entscheidet bisher in den meisten Fällen nicht die individuelle Begabung eines Menschen über seine Bildungskarriere, sondern immer noch der soziale Status seiner Familie. Wenn es der Staat und damit die Gesellschaft mit dem Anspruch, Chancengerechtigkeit für alle Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, Ernst meint, dann benötigen wir grundlegende Reformen im Bildungssystem, damit alle Menschen entsprechend ihrer Begabungen und Ressourcen an Bildung teilhaben können.
Schülerverbände, Wissenschaftler und Gewerkschaften fordern das Konzept “Schule für alle”. Welche Vorteile hinsichtlich der Herstellung von chancengleicher Bildungsteilhabe hat das Konzept “Gemeinschaftsschule” aus Ihrer Sicht?
Prof.´in Dr. Havva Engin: Eine „Schule für alle“ ist in der Tat ein zentraler Meilenstein in der Verwirklichung von Chancengerechtigkeit. Finnland, das als einer der ersten Länder diese Schulform umgesetzt hat, ermöglicht beinahe zwei Drittel eines Schülerjahrganges den Erwerb der Hochschulreife. Leider gibt es die „Schule für alle“ oder wie sie in Deutschland heißt „Gemeinschaftsschule“ nicht umsonst. Sie benötigt zuallererst eine ganz andere sächliche wie räumliche Ausstattung sowie Pädagoginnen und Pädagogen, die fundiertes Wissen besitzen, wie mit der Vielfalt in den Lerngruppen umzugehen und jede Schülerin und jeder Schüler entsprechend seines individuellen Profils inklusiv zu beschulen ist. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Ich befürchte, dass in den Bundesländern und Regionen, in denen die „Gemeinschaftsschule“ aktuell vehement politisch forciert wird, es sich – angesichts zurück gehender Schülerzahlen – lediglich um ein verkapptes Einsparmodell handelt.
Der private Bildungssektor hat in den letzten Jahren sichtbar an Bedeutung und wirtschaftlicher Kraft gewonnen. Können Sie kurz ihre Einschätzung zu den Entwicklungen in diesem Sektor schildern?
Prof.´in Dr. Havva Engin: Wenn Eltern und Familien angesichts der in vielen Bundesländern angestoßen Bildungsreformen, die – wenn überhaupt – halbherzig zu Ende geführt werden, völlig verunsichert sind und ihre Kinder dann auf Privatschulen schicken, um ihnen die Zukunftsperspektiven nicht zu verbauen, so kann und sollte man dieses Verhalten verstehen. Problematisch ist diese Entwicklung allerdings aus der gesellschaftspolitischen Perspektive. Denn die Grundschule war bzw. ist bisher die einzige Institution, die von Mitgliedern aller Gesellschaftsschichten besucht wurde. Wenn dies wegfällt und Kinder bereits im Kindergartenalter bzw. mit der Grundschule voneinander getrennt werden, dann ist die Ausbildung von Parallelgesellschaften groß, was perspektivisch den gesellschaftlichen Frieden bedrohen wird. Hier sind wieder der Staat und die Bildungspolitik gefordert, die schnell handeln müssen, soll die soziale Schere nicht noch weiter auseinander gehen.
Zur Person Prof.´in Dr.Havva Engin, geb. 1968 in Edirne (Türkei), u.a. Forschungsarbeit an der PH Karlsruhe als Juniorprofessorin (2000 – 2005); Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Bielefeld als Professorin für Elementarpädagogik mit dem Schwerpunkt kindliche Sprachentwicklung (2009-2010). Seit 01. April 2010 Professur für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Leitung des Heidelberger Zentrums für Migrationsforschung und Transkulturelle Pädagogik (Hei-MaT)
Quelle: Kadin/Frau 2013 No: 20