DER WILLE DES PARLAMENTS KANN NICHT AUF EINE PERSON ÜBERTRAGEN WERDEN

Die Empörung über den Austritt der Türkei – unterschrieben von Präsident Recep Tayyip Erdogan – aus der Istanbul Konvention, dauert an und wächst. Die Istanbul Konvention, ein bedeutendes internationales Abkommen im Kampf gegen Gewalt an Frauen, war der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. Frauenorganisationen hatten landesweit protestiert und das Festhalten an dem Abkommen gefordert.

Nach dem Austritt aus der Istanbul Konvention per Präsidial-Dekret haben viele Einrichtungen und Personen ihre Kritik geäußert.

DER WILLE DES PARLAMENTS KANN NICHT AUF EINE PERSON ÜBERTRAGEN WERDEN

EŞİK (itlik İçin Kadın Platformu = Die Frauenplattform für Gleichberechtigung) bekundet: „Ein Abkommen, das im Parlament einstimmig bestätigt wurde, kann nicht durch den Willen eines Einzelnen aufgekündigt werden.“ Die Erläuterung von EŞİK lautet: “Internationale Abkommen über Grundrechte und Freiheiten, die per Gesetz bestätigt wurden und gemäß Artikel 90 der Verfassung sogar Gesetze außer Kraft setzen können, können nicht mit der Entscheidung einer Person aufgekündigt werden. Solch ein Vorhaben hieße, dass  Abkommen wie die Europäische Menschenrechtskonvention, das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und die damit garantierten Grundrechte des Menschen den Launen eines Einzelnen überlassen würden. Noch schlimmer sogar, es bedeutet die Aufhebung des Rechtsstaates, die Auflösung des Parlaments und der Demokratie. Die Türkei hat vor zehn Jahren als erstes Land die Istanbul Konvention unterschrieben und die Regierungspartei hat sich damit gerühmt. Heute teilt sie der Welt mit, dass sie das Versprechen, das sie den Frauen gegeben hat, nämlich Gewalt vorbeugen, Gewaltopfer schützen und die Täter angemessen bestrafen, nicht einhalten wird. Damit sagt sie, dass sie die gleichen Bürgerrechte für Frauen, also Menschenrechte für Frauen nicht anerkennt, keinen Einsatz für den Kampf gegen Gewalt an Frauen zeigen und auch die Menschenwürde von Frauen nicht verteidigen wird.

WIR HALTEN SOWOHL AN DER ISTANBUL KONVENTION ALS AUCH AN UNSEREM KAMPF FEST

Die Regierung ist in einer Situation, dass sie von winzigen Wahlanteilen abhängig ist und sich nach dem Willen von Marginalisierten richtet, so hat sie in den letzten Wochen bei Gesprächen mit der Saadet Partisi (= Partei der Glückseligkeit) die Istanbul Konvention zum Thema politischer Verhandlungen gemacht. Zur Erläuterung ihres Aktionsplans zu Menschenrechten hat die Regierung erklärt, dass sie sich gegen Gewalt an Frauen engagieren wird, jedoch die Istanbul Konvention mit keinem Wort erwähnt. Auch hat sie die darin geforderten Verpflichtungen nicht eingehalten. Die AKP kämpft nicht gegen Gewalt an Frauen, sie kämpft gegen Frauen, Kinder und LGBTI-Personen und gegen deren Rechte; sie verfolgt eine Politik, die beharrlich unsere erworbenen Rechte abschafft.

DIE ENTSCHEIDUNG IST KEINE JURISTISCHE, SONDERN EINE POLITISCHE

Die Regierung möchte mit dieser Entscheidung ihre Macht erhalten und ist dafür bereit, die erkämpften Rechte von Frauen aufzuheben. Diese Entscheidung bedeutet auch, dass die Türkei sich von internationalen Menschenrechtsstandards entfernt und sich von der Demokratie, dem Gleichheitsprinzip und dem Diskriminierungsverbot verabschiedet. Stück für Stück werden die Artikel der Verfassung angegriffen und aufgehoben, wobei dieser Schritt einer der Größten ist. Er richtet sich gegen die Rechte und Freiheiten der gesamten Gesellschaft und öffnet Tür und Tor für eine Zeit, in der die internationalen Menschenrechte allen in der Türkei lebenden Menschen vorenthalten werden können.

DAS PARLAMENT MUSS AN DIE ARBEIT

Eine der wichtigen Aufgaben des Parlaments ist die Eindämmung der Gewalt gegen Frauen und Frauenmorde, die schon das Ausmaß eines Genderzids annehmen. Wenn die regierende Partei diese Aufgabe nicht erfüllt, so muss die Opposition Verantwortung tragen. Wir rufen die Opposition auf, gegen die Passivität der Regierung den Willen des Volkes durchzusetzen. Die Istanbul Konvention wurde einstimmig bestätigt. Nur mit der Zustimmung des Volkes und einer Entscheidung des Parlaments ist ein Austritt aus der Istanbul Konvention möglich. Deshalb rufen wir alle Parteivorsitzenden als Politische Führer der Großen Nationalversammlung der Türkei auf, gemeinsam eine Presseerklärung zu formulieren, diese Konvention zu verteidigen und zu erklären, dass diese Austrittserklärung ungültig ist und die Türkei weiterhin an der Konvention festhält. Wir erwarten, dass sie ihren Mitgliedern, den Wählern und der gesamten Gesellschaft die Konvention erläutern und Mühe zeigen, die darin verankerten Bestimmungen zu erfüllen. Hierzu braucht es eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe, die ein Programm erarbeitet, das die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufnimmt.

Die Aufgabe der politischen Parteien zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und das Stoppen von Frauenmorden ist nicht nur in der Istanbul Konvention verankert, ebenso verpflichtet die Verfassung in Artikel 10, 17 und 41 dazu.

Wir, die Plattform EŞİK mit über 340 Mitgliedern aus Frauen- und LGBTI-Vereinen, fordern alle politischen Parteien auf, die gesellschaftliche,  geschlechterbasierte Gewalt und Diskriminierung zu bekämpfen, ausdrücklich bieten wir unsere Unterstützung hierzu nochmal an.

Wir rufen alle Menschen auf, die Istanbul Konvention zu verteidigen, alle, die ihre Grundrechte und Freiheiten genießen, gleich, frei und ohne Gewalt in Demokratie und einem Rechtstaat leben wollen! Wir verteidigen unser Recht auf ein gleiches und gewaltfreies Leben. Wir lassen keinen Austritt aus der Istanbul Konvention zu.“

Quelle: ekmekvegul.net

Übersetzung: Rukiye Cankiran

 

 

 

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