Das Recht auf kurze Hosen

20160918-2-19140477-14273337-webnfgtcgyehkim_kcdqbc5cq Frauen in der Türkei müssen für ihre Existenz kämpfen – und für das Recht, kurze Hosen zu tragen.

Sibel Schick

In der Türkei werden jährlich rund 300 Frauen von Männern ermordet – diese Tatsache ist der Ursprung des berüchtigten Namens „das Land der Frauenmorde“.1 Die Täter sind meistens die Ehemänner, Ex-Partner, Brüder, Väter oder andere Männer aus der Familie. Die Frauenmorde werden in der Regel mit den Entscheidungen der Frauen begründet über ihr eigenes Leben, wie zum Beispiel arbeiten zu gehen, sich scheiden zu lassen oder trennen zu wollen, oder einfach nur die falsche Haarfarbe zu haben oder falsche Klamotten zu tragen. Die Täter genießen häufig Strafmilderungen und erhalten geringe Strafen, die keinerlei zu ihren Taten stehen.

Die frauenfeindliche Politik der AKP

2011 wurde das Frauenministerium von der AKP-Regierung durch den „Ministerium für die Familie und soziale Politik“ ersetzt. Seitdem wissen Frauen bescheid, dass sie auch von der Sicht der Regierung an den Herd gehören, also in der Familie. Eine Verwaltungsbehörde, die sich auf die geschlechtsspezifische Probleme der Frauen konzentriert, gibt es seit 2011 nicht. Auch davor deutete AKP häufig an, dass sie die Frau nur als Teil der Institution Familie wahrnimmt. Zum Beispiel durch gezielte Aussagen der Politiker, die für den Eindruck sorgen, Frauenhäuser seien fatal für die Institution Familie, sinkt deren Zahl rasant. Die Stadtverwaltungen, die sich angesprochen fühlen und die Frauenhäuser schließen, verhindern damit die Zuflucht vor häuslicher Gewalt.

Commition No-Divorce

Dezember 2015 verkündete die AKP die Gründung eines Ausschusses innerhalb des Parlaments, die die Ursachen von Scheidungen herausfinden und Gesetzesänderungen vorschlagen soll, um diese zu reduzieren. Die Anzahl der Scheidungen wären gestiegen, so ein Abgeordneter der AKP, und die Zahl sei noch nicht dramatisch im Vergleich mit anderen Ländern, jedoch unpassend für die türkische Gesellschaft. Der Ausschuss alarmierte feministische Organisationen. Am 16. Mai präsentierte der Ausschuss endlich seine Vorschläge, die sofort eine große Diskussion auslösten.

Laut einer Studie des Ministeriums für die Familie und soziale Politik aus dem Jahr 2014 lassen sich Frauen am häufigsten aufgrund der häuslichen Gewalt scheiden.2 Die Vorschläge des Ausschusses waren jedoch nicht an Methoden orientiert, die die Beseitigung der häuslichen Gewalt intendierten. Sie sahen eher vor, dass es für Frauen möglichst schwierig gemacht wird, eine Scheidung einzureichen.

Obwohl das klar gegen die Istanbul-Konvention stößt, die auch die Türkei unterschrieb, schlägt der Gesetzentwurf des Ausschusses zuerst Mediation vor, wenn eine Scheidung eingereicht werden soll. Durch die Mediation werden Frauen versucht, ihre Entscheidung für die Scheidung aufzugeben. Sie werden also versucht zu überreden, weiter bei ihren Ehemännern zu bleiben, dabei wird die Tatsache nicht berücksichtigt, ob diese gewalttätig sind oder nicht.

In der Türkei arbeiten nur 27 Prozent der Frauen in bezahlten Jobs und der Analphabetentum unter Frauen liegt bei 10 Prozent. Diese führen dazu, dass viele der verheirateten Frauen finanziell von ihren Ehemännern abhängig sind. Ein weiterer Vorschlag des Ausschusses ist, das Recht auf eine Unterhaltszahlung für die Frauen nach einer Scheidung zu streichen. So wird Frauen, die sich wegen häusliche Gewalt scheiden lassen möchten aber finanziell abhängig sind, die Tür zu einem gewaltfreien Leben geschlossen.

Die Vorschläge des Ausschusses löste heftige Reaktionen von Frauenorganisationen aus und in Istanbul fanden große Demonstrationen statt. Außerdem wurde im Internet eine Petition gestartet, mit einem Aufruf an das türkische Parlament, dass die Gesetzentwürfe nicht implementiert werden sollen.

Erdoğan: „Eine Frau ohne Kind ist eine halbe Frau“

Am 30. Mai hielt der Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei der Generalversammlung eines Bildungsvereins (TÜRGEV) eine Rede und sagte deutlich, dass die Geburtsplanung und die Verhütung für eine muslimische Familie nicht infrage kommen können. Erdoğan drückte seinen Wunsch nach mehr Nachkommen, und dass die erforderlichen Maßnahmen dafür ins Bildungssystem integriert werden sollen, um die Jugend gegen Verhütung zu positionieren. Kurz darauf hielt der Staatspräsident bei der Eröffnung der neuen Geschäftsstelle von dem „Verein für Frau und Demokratie“ (KADEM) eine Rede, in dessen Vorstand seine Tochter Sümeyye Erdoğan Bayraktar sitzt, und sagte, dass eine Frau, die sich gegen die Mutterschaft entscheidet und die Karriere bevorzugt, keine ganze Frau sei, sondern nur eine halbe.

In der Türkei ist es legal, eine Schwangerschaft bis zu 10 Wochen abzubrechen. Jedoch sieht das in der Praxis anders aus: Ein Zusammenschluss aus 12 Frauenorganisationen riefen in 12 verschiedenen Städten insgesamt 184 Krankenhäusern an und fanden heraus, dass nur 74 davon Abtreibungen praktizieren, nur 9 davon nach dem Gesetz, also nur nach dem Wunsch der Frau und unabhängig von ihrem Familienstand.

Nehmen wir an, dass Sie in der Ehe Gewalt erleben. Sie können nicht flüchten, weil es keine Frauenhäuser gibt. Sie haben keinen bezahlten Job, also kein Geld und ihr Recht auf einen Unterhalt wird Ihnen weggenommen. Sie müssen sich durchsetzen, um überhaupt eine Scheidung einreichen zu können. Sie können ihre (möglicherweise) unerwünschte Schwangerschaft nicht abbrechen. Sie haben keine Macht über Ihren eigenen Körper und ihr Leben. So sieht das zurzeit aus, eine Frau in der Türkei zu sein.

Das Recht auf kurze Hosen

Am 12. September wurde eine Frau, Ayşegül Terzi, in Istanbul in einem Bus von einem Mann ans Kinn getreten. Die Begründung: Sie trug eine kurze Hose. Die Aufnahme einer Sicherheitskamera im Bus zeigt den Angriff: Der Mann hält sich an einer Stange fest und tritt sie an den Kopf, trifft ihr Kinn. Ihr Kopf schläft gegen die Fensterscheibe. Der Täter Abdullah Çakıroğlu wurde an dem gleichen Tag festgenommen, jedoch sofort wieder entlassen.

Internetnutzer zeigten Solidarität auf Twitter und Facebook unter dem Hashtag #AyşegülTerzininSesiOlalım (lass uns die Stimme heben für Ayşegül Terzi) und Frauenvereine organisierten Demonstrationen für ihr Recht, in dem öffentlichen Raum so zu existieren, wie sie es möchten, ob mit kurzer Hose oder Kopftuch. Außerdem forderten sie, dass alle Verantwortlichen vor Gerechtigkeit gezogen werden, inklusive der Busfahrer, weil er den Täter nicht bei der Polizei meldete. Durch die große Reaktion der Öffentlichkeit konnte Abdullah Çakıroğlu eine Woche später wieder festgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft fordert neun Jahre Haft wegen Hetze (ja, nicht wegen Körperverletzung).

Ministerpräsident: „Er hätte lieber murmeln sollen“

In einem Interview schlug der türkische Ministerpräsident BinaliYıldırım den durchschnittlichen Konservativen vor zu murmeln, statt zu treten: „Es ist keine normale Tat eines normalen Menschen. Mag sein, dass es ihm nicht gefällt, was sie tut [kurze Hosen zu tragen]. Er hätte lieber murmeln sollen.“

Anstatt gegen die Gewalt zu kämpfen, schlägt der Ministerpräsident des Landes der Frauenmorde vor, die Gewaltform von körperlich auf verbal umzuändern. Frauen seien verbal zu belästigen, sollen bloß nicht getreten werden. Anstatt wegen ihrer kurzen Hosen geschlagen zu werden, sollen sie an jeder Ecke mit einer neuen Belästigung rechnen, die von dem Ministerpräsident im Voraus gerechtfertigt wurde. Das nenne ich eine nachhaltige Lösung.

Wenn es eine gute Sache für Frauen in der Türkei gibt, dann ist es die schnelle Mobilisierung, sowohl online als auch offline, und die Solidarität, die sie sich gegenüber zeigen. Sie können sich häufig schnell organisieren, sie wehren sich täglich gegen Männergewalt und frauenfeindliche Politik, setzen sich ein für ihr Recht auf ein besseres Leben.

sibelschick

2http://ailetoplum.aile.gov.tr/data/54292ce0369dc32358ee2a46/t

Quelle: https://www.freitag.de/autoren/sibelschick/das-recht-auf-kurze-hosen

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