Aslı Erdoğan: Ich ziehe meine Kraft daraus, zu wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe

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Aslı Erdoğan, Özgür Gündem Redaktionsbeiratsmitglied und Autorin, hat aus dem geschlossenen Frauengefängnis Bakirköy, wo sie derzeit inhaftiert ist, die Fragen der Evrensel beantwortet.

Nuray Sancar- Fatih Polat

Asli Erdogan, Özgür Gündem Redaktionsbeiratsmitglied und Autorin, hat aus dem geschlossenen Frauengefängnis Bakirköy, wo sie seit dem 19. August inhaftiert ist, die Fragen der Evrensel beantwortet. Asli Erdogan, die wir über ihren Anwalt kontaktieren konnten, sagte „Mit jeder Zeitung und jedem Journalisten, der zum Schweigen gebracht wird, wird das Recht des Volkes auf Informationen mit Füßen getreten, mit jedem Akademiker, der eingeschüchtert wird, wird der Entwicklung neuer Ideen, dem wissenschaftlichen Denken und dem kritischen Ansatz ein Riegel vorgeschoben, mit den inhaftierten Anwälten wird das Recht des Volkes sich zu verteidigen bedroht.“

Erdogan, die anmerkt, dass das Schreiben für sie die einzige Art des Seins ist sprach außerdem „Das ist voll und ganz ein Widerstand. Jedoch ist es ein Widerstand, bei dem ich von Anfang an die Niederlage der Schrift anerkannt habe. Ich ziehe meine Kraft daraus, zu wissen, dass ich die WAHRHEIT gesagt habe, deswegen brauche ich keinen Zeugen oder Obmann.“

Als Sartre sich gegen die Besatzung Algeriens gestellt hat, haben die französischen Nationalisten eine Kampagne ins Leben gerufen. De Gaulle hatte damals gesagt :“Sartre ist Frankreich,“ In letzter Zeit werden in der Türkei Autoren, Journalisten, Akademiker verhaftet und inhaftiert. Das ist ein Kollektiv, von dem wir behaupten können „Sie sind die Türkei“ mit ihren Ideen und ihrer Haltung. Was sagen sie dazu was „der Türkei“ widerfahren ist?

Sartre hatte im Namen des „Gewissens von Frankreich“ gesprochen, um Frankreich, mit der Heuchelei und den Verbrechen der Ausbeutung  zu konfrontieren. Wir Autoren, Journalisten und Juristen, die einen hohen Preis gezahlt haben, wurden in Zellen gesteckt um das Gewissen zum Schweigen zu bringen, es nicht hörbar zu machen, statt nur für die Einschränkung der Freiheit des Denkens und der Meinungsfreiheit.

„Autor, Journalist, Akademiker, Jurist! Es ist bedeutungslos welchen Titel ihr tragt, ihr werdet einen Preis zahlen!“ hatte die politische Führung vor einigen Monaten angekündigt… Aus der Sicht der Regierung heraus sind wir alle in einem Topf, im Topf derer, die als erste geopfert  werden, weil sie die Sicht des Staates nicht teilen! Eigentlich sind wir alle nur Einzelpersonen, jeder von uns wurde barbarisch-erweise von unseren Leben getrennt. Jedem einzelnen von uns wurde das Recht auf eine faire Verhandlung verwehrt. Jedoch wird mit jeder Zeitung und jedem Journalisten, der zum Schweigen gebracht wird, das Recht des Volkes auf Informationen mit Füßen getreten, mit jedem Akademiker, der eingeschüchtert wird, wird der Entwicklung neuer Ideen, dem wissenschaftlichen Denken und dem kritischen Ansatz ein Riegel vorgeschoben, mit den inhaftierten Anwälten wird das Recht des Volkes sich zu verteidigen bedroht. Alle diese Individuen werden in Gefängnisse gestopft, weil sie das natürlichste Verlangen jedes Menschen nach Frieden zu Sprache bringen, weil sie die offizielle Geschichte des Staates hinterfragen und den Staat aufrufen internationale Menschenrechte und sogar ihre eigenen Gesetze zu befolgen. Um es kurz zu fassen wird mit uns auch das Denken und das historische GEWISSEN summarisch hingerichtet.

Doch ich bin nur eine Autorin. Autorenschaft ist kein Titel, es ist die Verpflichtung das Sprachrohr der „Lage der Menschheit“ zu sein. Jeder Schriftsteller, der zum Schweigen gebracht wird, ist eigentlich eine MENSCHENSTIMME, die man versucht leise zu stellen.

Meines Wissens nach wurde, seit den Nazis, in Westeuropa, außer in Frankreich, kein Schriftsteller aus politischen Gründen verhaftet. Sie besaßen genug Wissen um zu verstehen, dass die Inhaftierung eines Schriftsteller die Beschneidung der eigenen Zunge ist.

Sie sind eine Schriftstellerin, die auch Physik studiert hat. Wenn sie ein Theorem empfehlen müssten, um aus der chaotischen Umgebung hinauszugelangen, wie würden sie dieses literarisch formulieren?

„Die Formel für Chaos ist eigentlich einfach. Tod = Tod. Leben = Leben“ (Eine Stelle aus „Die Stadt mit dem roten Umhang“)

Wenn ich das auf die Türkei unserer zeit anwende: Frieden = Frieden. Krieg = Krieg. Wenn die Türkei es nicht schafft sich aus der Kriegspsychose, in die sie versunken ist, der Obsession überall, wo sie ihren Blick hin dreht, Feinde zu sehen/erschaffen, dem Nationalismus, das mit dem Delirium des Imperialismus ineinander gegangen ist und der Leidenschaft zu töten und zu sterben, zu lösen, befürchte ich werden wir eine lange Zeit nicht aus dem Chaos herauskommen. Traurigerweise werden diejenigen, die versuchen das Wörtchen „Frieden“ mit Inhalt zu füllen, auf die grausamsten Weisen leise gestellt. (Diejenigen, die wie ich und Necmiye Alpay, ihr Leben dem Frieden gewidmet haben werden in Gefängnisse gesteckt!)

In ihrem Roman mit dem Namen „Die Stadt mit dem roten Umhang“, in dem sie Rio de Janeiro sehr tiefgründig beschreiben, sieht sich Özgür, gegen Ende des Romans, gänzlich in die Enge getrieben, mit dem Tod konfrontiert und widersteht ziemlich lange um nicht aufzugeben. Woraus sollten ihrer Meinung nach diejenigen, die sich heutzutage in der Türkei genauso fühlen, ihre Widerstandskraft schöpfen?

Özgür, der sowohl Protagonist als auch „Autor“ von „Die Stadt mit dem roten Umhang“ ist, kennt nur ein Dasein: das Schreiben…. Schreiben als ein Widerstand, eine Zeugschaft, als einen Unterschlupf gegen die Gewalt der Außenwelt. Gleichzeitig auch das Schreiben als eine Reinigung(Katharsis), eine Befreiung, die Suche danach, der Herr seines eigenen Schicksals zu sein… Die Frage, inwieweit es Özgür schafft seiner eigenen Geschichte einen Punkt zu setzen, wird dem Leser überlassen.

Das ist voll und ganz ein Widerstand. Jedoch ist es ein Widerstand, bei dem ich von Anfang an die Niederlage der Schrift anerkannt habe. Ich ziehe meine Kraft daraus, zu wissen, dass ich die WAHRHEIT gesagt habe, deswegen brauche ich keinen Zeugen oder Obmann.

„Herz, bezeuge nicht gegen mich!“ heißt es in einem sehr alten ägyptischen Gedicht. Die Zeugschaft meines Herzens ist die einzige, die ich zurzeit ernst nehme.

Bei Insan Manzaralari (Menschen Landschaften), das auf TRT veröffentlicht worden ist, erwähnen Sie ihre Gedanken bezüglich Sait Faik. Aber spüren sie im Gefängnis nun auch die „hischt“ – Geräusche, die zu ihrer Verteidigung erklingen?

„Nun gehört nicht einmal mehr die Stille dir,“ so hatte ich ein Werk begonnen. Nun sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir auch unsere eigene Stimme nicht hören, nicht erkennen. Ich denke, sie sehen uns als „Nutztiere“ in ihren Händen an, „Lass diesen Monat ein zwei Akademiker, etwa zehn Journalisten und einen Schriftsteller rein schmeißen… lass jetzt extra die „Kurdenfreunde“ und vor allem Frauen aussuchen, damit sie so richtig Angst kriegen!“

Das ähnelt den zufälligen Bestrafungsaktionen in Konzentrationslagern.  Wenn wir, drinnen wie draußen, unsere Stimmen nicht genug erheben, werden sie bald alle Stimmbänder dieser Gesellschaft weggerissen und weggeworfen haben.

Um auch etwas auf die Situation drinnen einzugehen: Wie verbringen Sie ihre Tage? Wir wissen, dass sie auch gesundheitliche Probleme haben. Gab es eine Besserung der Bedingungen

Die Tage im Gefängnis sind die Kontinuität des immer selben Tages. Zählung, Frühstück, Stunden der Stille, Anwalt, Spaziergang, das Abendessensritual. Ich habe angefangen zu lesen, sogar zu schreiben aber meine Gedanken kämpfen stets mit dem Unrecht, das mir angetan wird, ich bin in einer ständigen Lage der Anklage und Verteidigung. Im Gefängnis zu sein ist, als würde man aus einem sehr Tiefen Graben heraus die Welt betrachten, du hörst die Stimmen draußen, aber deine Stimme schafft es nicht zu ihnen gelangen!

Natürlich ist das Gefängnis nicht der ideale Ort für eine Frau, die 4 Operationen hinter sich hat, wenn ich sagen darf, deren Nähte von hier und da „aufplatzen“, jedoch ist seit meiner ersten Nacht in Verwahrung eine nicht mir gehörende Kraft in meinen Körper gedrungen. Ich habe hier nicht den Luxus krank werden zu können! (Zu sagen, dass man krank ist, zieht schon sofort Sanktionen auf sich, solch eine inhumane Sichtweise herrscht hier)

Vor dem Gefängnis wird eine Freiheitswache abgehalten. Vor dem Bakirköy Gefängnis ist ein dauerhafter Widerstand. Gibt ihnen das Mut?

Necmiye Alpay und auch ich wurden auf eine gänzlich rechtswidrige Weise, mit politischer Motivation verhaftet. Dass sie nicht die Reife besitzen zu sagen „Wir haben einen Fehler gemacht, es tut uns Leid“ ist deutlich! Ich denke nicht, dass sie davon zurückschrecken würden uns wie ein Taschentuch zusammen zu falten und in den Müll zu schmeißen, gebe es nicht den Widerstand und die Solidarität draußen.

Die ersten acht Tage habe ich keine Zeitung in die Hände gekriegt, von vielen Geschehnissen habe ich erst dann erfahren. Der Widerspruch zwischen dem Ausmaß der Reaktionen, der Liebe und des Widerstandes, und im Gegensatz dazu die „Erniedrigung“ – jeder Gefangene wird erniedrigt, das ist Teil des Systems – die ich hier erfahre fügt mir mal Schmerzen zu, mal ermutigt es mich. Meine Bücher, meine Werke, mein Streben für eine menschlichere Welt wurden anscheinend von so vielen Menschen verstanden! Ich fühle mich geehrt. Es ist komisch, denn zum ersten Mal fühle ich mich nicht einsam.

Was bedeutet die Erfahrung der Haft für eine Schriftstellerin?

Der Überfall der Spezialeinheiten, die 72 Stunden Untersuchungshaft, auf einem schmalen Holzbett mit einer dreckigen Decke liegend, 5 Tage Isolation und das danach… Ich bin noch bei dem Versuch meine eigenen Erfahrungen zu „schlucken“, bevor ich sie überhaupt verarbeiten kann! Um es kurz zu fassen ist es noch zu früh um zu beurteilen was die Inhaftierung mir im Leben genommen – oder mir gegeben – hat. Ich denke, um auch mir selbst nicht einzugestehen, dass ich leide, führe ich kein Tagebuch.

Außerdem teile ich mit 20 Frauen eine Gemeinschaftszelle. Die Geschichte, Tragödie, der Widerstand, das Daseinsbestreben einer jeden ist unauffindbares „Material“ für jeden Schriftsteller, doch ich bin meinen Zellenfreundinnen (allen Häftlingen, die ich im Gefängnis kennengelernt habe) schon so sehr verbunden, dass ich sie nicht als „Material“ ansehe… Sicherlich muss ich über alle hier schreiben, über jede einzelne, jede Geschichte hier muss erzählt werden, aber ich bin mir nicht sicher ob die Kraft meiner Schrift dazu ausreicht. Für mich fängt die Literatur mit dem Schicksalsgefühl an, dieses Gefühl kann von keiner Erfahrung, als die des Gefängnisses, besser „ausgedrückt“ werden.

Was würden Sie zu der Möglichkeit des Friedens in der Türkei als eine Schriftstellerin, die seit Jahren für den Frieden gekämpft und geschrieben hat, sagen? Wieweit ist es bei uns noch bis zum Frieden?

Es ist schwierig zu glauben, dass ein Staat, der diejenigen, die seine „offizielle Sichtweise“ nicht teilen und die die Straftaten des Staates nicht weißwaschen, mit den schwerwiegendsten Anklagen inhaftiert, irgendwelche Schritte in Richtung des Friedens gehen wird! Lasst es uns jedoch wiederholen: Frieden schließen ist schwieriger als Krieg zu führen, aber nicht unmöglich. Dialog, gegenseitiges Verständnis und Konfrontation… Ich kann keinen anderen Weg sehen – glaube aber dieser Weg wird länger andauern als unsere Leben!

Übersetzung von Sinan Cokdegerli

Quelle; www.evrensel.net

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