Was wollen die Frauen?

Wie sind sie vom Ausnahmezustand betroffen? Warum sind sie gegen das Präsidialsystem

Sevda Karaca ist Journalistin, Produzentin und Moderatorin der Frauensendung “Ekmek ve Gül-Brot und Rosen”, die auf dem Sender Hayat TV bis zu dessen Schließung durch ein Notstandsdekret im Oktober 2016 ausgestrahlt wurde. Im Interview beantwortete sie unsere Fragen zu den aktuellen Entwicklungen in der Türkei sowie zum Referendum über die Verfassungsänderung.

sevda-karaca3 KopiePelin Şener: Lassen Sie uns kurz die Entwicklungen seit dem Putschversuch vom 15. Juli zusammenfassen. Was geschieht in der Türkei zur Zeit?

Sevda Karaca: Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erlebt die Türkei einen anderen Staatsstreich. Die AKP-Regierung, die den gescheiterten Putschversuch und die Wut der Bevölkerung dagegen für sich instrumentalisiert, unternimmt gerade einen “zivilen Staatsstreich”. Unter dem verhängten Ausnahmezustand wird das Land mit Notstandsdekreten regiert. Der Wille des Parlaments wurde auf Eis gelegt. Abgeordnete, die mit den Stimmen von mehreren Hunderttausenden Wählern ins Parlament gewählt wurden, werden gesetzeswidrig verhaftet. Journalisten, Hochschullehrer, Künstler, Lehrer, Staatsbedienstete werden verhaftet. Eigentlich fast alle Menschen, die für Demokratie eintreten, werden per Notstandsdekret festgenommen, suspendiert, entlassen. In den zurückliegenden Monaten wurden auch zahlreiche Frauenverbände per Dekret geschlossen und ihr Besitz konfisziert, den Frauen solidarisch erworben hatten. Paralell zu diesem “Krieg” nach innen steigen auch Anschläge und Krisensituationen, die eine Folge der falschen Außen- und vor allem Syrienpolitik der Türkei sind. Innerhalb des letzten Jahres verloren Hunderte Menschen bei IS-Anschlägen ihr Leben. In der Gesellschaft macht sich das Gefühl der Unsicherheit breit. Die Regierung, die für dieses Bild des Schreckens verantwortlich zeichnet, geht gegen alle Oppositionellen vor. Sie versucht sie mundtot zu machen und beruft sich dabei auf “Bekämpfung des Terrors”. Jede Repression wird mit diesem Argument und mit der Zauberformel “innere Sicherheit” gerechtfertigt und legitimiert. Die Polarisierung in der Gesellschaft wird immer stärker, weil alle, die für Demokratie eintreten, ihre Unzufriedenheit artikulieren, als “Terroristen” diffamiert und zur Zielscheibe von staatlicher Repression gemacht werden.

Das Referendum am 16. April in der Türkei interessiert natürlich auch Menschen, die im Ausland leben. Denn auch hier werden sich die türkischen Staatsbürger daran beteiligen. Deshalb sollten wir das Thema näher erörtern. Wie und warum kam es dazu? Worüber wird da entschieden?

Die AKP-Regierung hatte die Debatte um das “Präsidialsystem” bereits 2014 angestossen. In der aktuellen Stimmung der Spannungen und Angst hat sie sie wieder angefacht und dabei auch die Unterstützung der ultranationlistischen MHP gewonnen. Die Regierung spricht von einem Befreiungskrieg, den man aktuell gegen Terrororganisationen führe. Man brauche in diesem Krieg das Präsidialsystem. Wer sich dagegen stellt, wird als “Landesverräter” oder als deren Unterstützer abgestempelt. Bei dem angestrebten Präsidialsystem geht es nicht um die demokratischen Forderungen der Gesellschaft. Sicherlich muss das derzeitige Grundgesetz vollständig geändert werden, schließlich wurde es nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 mit Gewalt durchgesetzt. Alle antidemokratischen Vorschriften und Institutionen, die mit diesem Grundgesetz verankert wurden, müssen abgeschafft werden. Die Frage ist aber doch berechtigt, ob eine Verfassungsänderung, die unter dem Ausnahmezustand, also unter Bedingungen wie damals nach dem Militärputsch durchgesetzt werden soll, als demokratisch bezeichnet werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Nein! Kann in einer Situation, in der 76 % der Bevölkerung keine Informationen über den Inhalt der zur Abstimmung stehenden Verfassungsänderung haben, ein neues Grundgesetz verabschiedet werden, über das breiter Konsens herrscht und das die unterschiedlichsten Gesellschaftsgruppen vertritt? Auch auf diese Frage ist die Antwort ein klares Nein.

Was bedeutet dieser Prozess und das Referendum aus der Sicht der Frauen?

Die Frauen in der Türkei erleben seit 35 Jahren am eigenen Leibe, wie eine unter Putschbedingungen durchgesetzte Verfassung die Gleichberechtigung von Frauen beschneidet, ihre demokratischen Forderungen zurückweist und ihren Willen einschränkt. Der jetzt von der AKP eingebrachte Entwurf bringt in diesem Zusammenhang keine Verbesserungen. Vielmehr soll damit für alle Ewigkeit das Regime eines Alleinherrschers installiert werden. Die Befürworter des Systemwechsels haben für das angestrebte System viele verschiedene Namen wie “Präsidialsystem a la turca”, “neues Verfassungssystem”, mit dem die Bevormundung beendet werde etc. Wie man es auch nennen mag: die zur Abstimmung stehenden 18 Änderungen werden zu einem System führen, das man überall und stets als “Regime unter einem Alleinherrscher” bezeichnet. Die Forderung nach einer Verfassungsänderung, die wir Frauen seit 35 Jahren aufstellen, wurde übersehen. Stattdessen wurde der Entwurf einer Verfassungsänderung, die nichts mit unserer Forderung gemein hat, durch das Parlament gepeitscht. Selbts wenn wir näher betrachten, wie die Verfassungsänderung in einer quasi Nacht-und-Nebel-Aktion unter undemokratischen Voraussetzung durchgesetzt werden soll, zeigt das alleine schon, dass in unserem Land den Frauen nur eine nachrangige Rolle zuteil wird. Wir werden nicht gefragt, man erkundigt sich nicht nach unseren Forderungen, wir werden nicht angehört. Ich meine nicht nur die Gegnerinnen des vorliegenden Entwurfs, sondern auch seine Befürworterinnen. Auch die Unterstützerinnen der Regierung wurden und werden aus der Diskussion ausgeschlossen. Sie sollen lediglich als Soldatinnen fungieren, damit die Verfassungsänderung beim Referendum die erforderliche Mehrheit erhält. Aus all diesen Gründen können wir sagen, dass die Änderung keinen Beitrag dazu leisten wird, dass Frauen künftig eine aktivere Rolle in der Politik spielen.

IMG-20170225-WA0002Ein auf eine einzelne Person zugeschnittener Entwurf!

Der Entwurf wurde auf eine einzelne Person, nämlich auf den Staatspräsidenten Erdoğan zugeschnitten. Danach soll der Staatspräsident künftig seine Parteibindung nicht mehr aufgeben. Das heißt künftig soll Erdogan auch der Vorsitzende der AKP bleiben. So wird er als Staatspräsident sowhl die Exekutive und als Parteivorsitzender auch die Legislative führen und kontrollieren. Wenn man die Macht, die er von den Medien und dem Kapital bekommt, dazu rechnet, wird offensichtlich, dass das Land im Falle dieses neuen Präsidialsystem ein autoritäres Regime unter der repressiven Kontrolle eines Alleinherrschers erhalten wird.

Der Entwurf beinhaltet augenscheinlich auch Änderungen, die das Leben der Frauen in vielerlei Hinsicht erschweren werden.

Ja, eine davon betrifft die Rechtsprechung als einer der Bereiche, der uns Frauen am stärksten zu Schaffen macht. Wenn Frauen rechtlich gegen Unrecht vorgehen wollen, erleben sie viel Ungerechtigkeit. Wir Frauen kennen genügend Fälle, bei denen die zugefügte Gewalt legitimiert wurde. Ein Vergewaltiger wird z.B. mit der Begründung freigesprochen, die Zustimmung des 12-jährigen Opfers würde vorliegen. Ein Mörder, der im Gerichtssaal mit einer Krawatte erscheint, bekommt vom Richter mildernde Umstände. Eine Frau, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist, bekommt vom Richter die Frage gestellt, warum sie zu so später Stunde am Tatort gewesen sein, was sie angehabt und ob sie sich gewehrt habe.

Auch wenn sie unterschiedliche Weltsichten haben, haben die Frauen und Mädchen in unserem Land viele gemeinsame Probleme in ihrem Alltagsleben. Wir, die Frauen in diesem Land, wollen frei von Gewalt leben. Die Kinder möchten in einem Land ohne Mißbrauch leben. Wir wollen in einem Land leben, in dem wir vor unabhängigen Gerichten unser Recht einfordern können. Wir wollen, dass die dafür erforderlichen gesetzlichen Regelungen geschaffen und angewandet werden. Der vorliegenden Entwurf für eine Verfassungsänderung bringt in diesen Punkt keine Änderungen mit. Ganz im Gegenteil: die Gerechtigkeit wird damit in weitere Ferne gerückt.

Wie stehen die Frauenorganisationen zum Referendum, was unternehmen sie in diesem Zusammenhang?

Die Frauen kommen seit Jahren für Gleichberechtigung und Freiheit zusammen, organisieren sich in lokalen Gruppen, kämpfen für die Lösung spezifischer Probleme. Jeder positive Schritt, jede Entwicklung im Sinne von Frauen musste von ihnen erkämpft werden. In den letzten 10 Jahren mussten wir mit ansehen, wie gegen unsere erkämpften Rechte und in unser Leben interveniert wurde. Die grundlegendsten Rechte von Frauen wurden Gegenstand von “Hinterfragung”. Die reaktionärsten Werte wurden wieder “salonfähig” gemacht. Die Forderung von Frauen nach einem besseren, gleichberechtigten Leben in Sicherheit wurden als “illegitim” abgestempelt. Trotzdem haben sich Frauen weiterhin zusammengetan und sich für ihre gemeinsamen Forderungen eingesetzt.

Heute führen Frauen Diskussionen darüber, wie sie sich angesichts dieser spaltenden und polarisierenden Politik gegen die bevorstehende Verfassungsänderung wenden können. Sie wissen, dass sie im Falle eines Regimewechsels unter einem Alleinherrscher mehr Kraft im Kampf aufbringen müssen. In manchen Fällen treten sie als “Frauengruppe gegen Verfassungsänderung” auf. In anderen Fällen mit lokalem Charakter wie Arbeitslosigkeit, Gewalt etc. engagieren sie sich als Gegnerinnen der Verfassungsänderung, gründen in diesen Kontexten “Kommissionen gegen den Entwurf”. Eines der wichtigsten Probleme in der Türkei, mit dem wir es aktuell zu tun haben, ist die Differenzierung, Polarisierung, Diskriminierung und Verfeindung. Deshalb zeigen Frauen den Weg auf, wie man dagegen vorgehen kann, wie man diese Versuche der gesellschaftlichen Spaltung zurückschlagen kann.

Umfragen zeigen, dass Frauen die Gruppe mit der kritischsten Haltung gegenüber der Verfassungsänderung bilden. Die Frauenbewegung versuchen, ausgehend von dieser hinterfragenden Haltung eine neue gemeinsame Bewegung entstehen zu lassen. Sie nehmen sie zum Anlass, um einen Kampf von Frauen zu organisieren, die ihre Zukunft nicht in die Hände eines einzelnen Mann übergeben wollen. In diesem Punkt brauchen wir internationale Solidarität. Wir brauchen die Solidarität unserer Schwestern in anderen Ländern, damit unsere Stimme stärker gehört wird.

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Mit welchen Forderungen begehen Sie den diesjährigen 8. März? Sind Massenproteste und Aktionen geplant? 

Seit dem letzten 8. März haben die Angriffe gegen unser Leben nicht abgenommen. Wir sind Bombenanschlägen zum Opfer gefallen. Es wurden Versuche unternommen, Gesetze zu verabschieden, mit denen Täter im Falle von Kinderheirat und Kindermissbrauch Straffreiheit erhalten sollten. Der “Scheidungsausschuss“ im türkischen Parlament hat es auf die Freiheit von Frauen, auf ihre Selbstbestimmung und ihre Unterhaltsrechte abgesehen. Unter dem Ausnahmezustand wurde die patriarchale Herrschaft und Kontrolle verstärkt. Die Frauen wurden recht- und schutzlos gemacht. Die Hetze gegen LGBTI ging unvermindert weiter. Institutionen, an die sie sich im Falle von Gewalt wenden können, wurden genauso wie Frauenvereine geschlossen. Infolge von Notstandsdekreten wurden unzählige Frauen arbeitslos. Wir Frauen haben uns aber nicht der Hoffnungslosigkeit ergeben. Wir haben den Weg der Solidarität und des gemeinsamen Handelns gewählt. Wir lassen es auch in diesen Zeiten uns nicht nehmen, dass wir weiterhin einander vertrauen und uns gegeneinander aufbauen können.

Der diesjährige 8. März hat im Kalender bis zum Referendumtermin eine besondere Bedeutung. Er wird eine Quelle für Hoffnung und Vertrauen aller Gesellschaftsgruppen sein. Denn er steht für den Kampf der Frauen für ein besseres Leben, eine sichere Zukunft und für Demokratie, gegen Einschüchterungsversuche und gegen Krieg. Die Zahl der Fälle von Kindermissbrauch und Gewalt gegen Frauen in der Türkei war noch nie so hoch wie heute. Täter kommen ungestraft davon. Und die Regierung bietet uns angesichts dieser Zahlen einen Regimewechsel, der angeblich für die Stabilität im Lande sorgen soll. Wir wissen, dass dieser Regimmewechsel keines unserer Probleme lösen wird, vielmehr wird er sie weiter verstärken. Genau deshalb wollen wir dagegen vorgehen. Dass die lebensbedrohenden Probleme der Frauen und Kinder in dieser politischen Situation aus den Augen verloren werden und bereiten uns auf einen 8. März vor, an dem wir unsere Stimme gegen die Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit und gegen das Prekariat erheben werden. Eines wissen wir ganz genau: jedes unserer Probleme, das bei den “großen Debatten” in den Hintergrund gerät, stellt den Grundpfeiler für die Gemeinsamkeit von Frauen dar – unabhängig von ihrer Weltanschauung und Parteizugehörigkeit.

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